Mitten in der Stadt

Erschienen in: Little Artur unterwegs: eine Dokumentation von Schreibwerkstätten mit Kindern und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Hg. v. Ilka Froh, Marcus Weber. Annweiler: Plöger, 2001.

Gillian wartet.

Der Boden ist aus Granit, ihre Kippe fällt hart. Hier ist Baustelle. Neben ihr ein Herr im Anzug, Gelfrisur, Aktenköfferchen. Er holt ein Päckchen Handkäse aus der Manteltasche, reißt es auf und isst den Käse pur, langsam, schmatzend, kaut mit offenem Mund. Das Zellophan knistert in seiner Hand. Er rülpst laut und zieht ein Mundspray aus der Tasche. Er trägt Lackschuhe. Vor ihr ein Pärchen. Sie, vielleicht fünfundzwanzig, Glitzerminikleid, gefärbte schwarze Haare, er im Kaschmirmantel, um die fünfzig. Sie knutschen wild, als wäre es zum letzten Mal. Gillian sieht, wie ihre Zungen sich berühren. Die Frau knickt um in ihren High Heils und stöhnt auf.

Krähe setzt sich neben Krähe. Gillian steht auf.

Der Handkäsemann ist weg. Die Lautsprecher rufen ihr Abfahrtszeiten zu, sie will nicht hinhören und kann nicht weghören, versucht sich die Frau vorzustellen, die ihr sagt, dass der ICE Westmünsterland zwanzig Minuten später ankommt.

Sie sagt es gar nicht Gillian. Sondern den Leuten an Gleis 5b. Die Sonne geht auf. In Hollywood-Filmen kann man den Sonnenaufgang hören. Sie hört die Ansagerin und einfahrende Züge. Das Licht geht aus.

Der Zeitschriftenladen hat zu, und sie hat ihr Buch vergessen. Scheiße auch heute Morgen, aber sie war gestern spät dran, Udo hat sowieso geschimpft, weil sie zu spät kam. Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, hat er gelästert. Dabei scheint er die Geschichte gar nicht zu kennen, der verlorene Sohn wird nämlich mit einem Fest empfangen.

Gillian hat zwei Stunden rumgehockt und geraucht, weil es keine Arbeit für sie gab. Es lief Jazz. Könnte ein Café für Intellektuelle sein, und sie könnte sich cool finden, weil sie dort arbeiten darf.

Sie geht zum Zigarettenautomaten gegenüber der Damentoilette, hört den Münzen zu, wie sie durch den Schlitz nach unten fallen.

Zieh dich endlich um, Gill!, hat Udo gebrüllt. Sie ist ins Büro gegangen, hat ihr Hemd vom Bügel gerissen, Krawatte und Schürze umgebunden, Krawatte zu lang, auf der Schürze noch Flecken von gestern, Ina hat sie angemotzt, sie mit der Krawatte stranguliert und gezischt, sie solle freundlicher gucken. Gillian verzieht das Gesicht. Es regnet. Sie friert.

Jemand kommt die Treppe hoch. Er klappt seinen rosaroten Schlimm zusammen. Seine Schuhe quietschen.

Die Türen schließen automatisch, ruft die Lautsprecherin. Die Männer haben gelbe Socken an, sie springen in den Zug. Vorsicht bei der Abfahrt. Sie hat sich immer schon gefragt, wie viele von den automatischen Türen eingeklemmt werden.

Der Mann mit dem Schirm starrt sie an, packt ein Fischbrötchen aus und beißt rein. Wo er das wohl her hat? Sie will auch ein Fischbrötchen. Um diese Uhrzeit?, würde Mutter jetzt fragen, mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzen Lippen.

Gillians rechter Arm tut weh. Die Tabletts waren wieder schwer, sie hat wieder Weizenbiergläser balanciert. Udo hat sie angestoßen. Versehentlich. Dann haben sich die Gläser versehentlich vom Tablett gestürzt und Ina hat versehentlich angefangen hysterisch zu kreischen.

Wieder schließen automatische Türen. Es ist Herbst. In diesem Jahr gab es keinen Frühling, erst recht keinen Sommer. Der Wind treibt Ahornblätter über den Bahnsteig. Der Regen klebt sie auf den Boden. Heute werden hunderte Füße darüberlaufen, morgen werden sie eine milimeterdünne Humusschicht sein, übermorgen werden sie weggekehrt.

Der Mann packt noch einen Jogurt aus, er scheint hungrig zu sein. Neben ihm eine riesige Reisetasche und ein Geigenkasten. Wie er wohl aussieht, wenn er Geige spielt? Ob er die Augen schließt? Mutter legt beim Klavierspielen das ganze Gesicht in Falten. Ihr Kinn sieht dann immer ganz alt aus. Komisch. Gillian grinst.

Er sieht jedenfalls gut aus, groß, blond, große Augen. Er wirft seinen Jogurtbecher in den Plastikmüll und sieht sie an.

Und sie sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand.

Es wird dunkler. Die Wolken sind dunkelgrau. Die Laternen gehen wieder an. Ob dafür auch die Lautsprecherin zuständig ist? Bestimmt ist sie groß und dick und trägt eine blaue Uniform und braune Haare zum Knoten gesteckt.

Der Zeigefinger im Kopf zeigt auf ein Bild von mir selbst, denkt sie. Woran erinnert sie die Zeile, wo gehört sie hin? Heute Abend ist sie ihr eingefallen, als sie nichts zu tun hatte und einer Frau zusah, die Schaum spuckend zusammenbrach, vermutlich vom Alkohol und weil Skate-Nacht war.

Noch nicht einmal Zettel und Stift hat sie.

Gillian schaut sich um. Den Engel will sie nicht fragen, er wird fragen, wozu, und sie wird rot werden und nichts antworten können. Sie bindet ihren Schuh, der schon lange offen ist, und zündet sich eine Zigarette an … es lässt ihr keine Ruhe. Mit zitternden Knien geht sie auf ihn zu. Er gibt ihr blütenweißes Papier und einen schwarzen Bleistift. Wozu?, sagt er.

Der Zug kommt. Sie steigt ein und setzt sich in ein Abteil. Gegenüber sitzt er. Sein Schirm tropft, seine Augen sind geschlossen. Sie lehnt sich zurück.

Mitten in der Stadt geht mir die Messerschneide nach. Der Zeigefinger im Kopf zeigt auf ein Bild von mir selbst, schreibt der schwarze Stift.

Der Zug fährt ab.

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